imp!act – Ein Workshop mit ungewissem Ausgang

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Vor drei Wochen wurde mir über Facebook ein viertägiger Workshop angepriesen. Anscheinend erhielt man dort die Möglichkeit, unter kompetenter Aufsicht ein nachhaltiges Projekt zu starten, das die Welt ein bisschen besser machen sollte. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: Ein Personal Coach und eine Person, die unter sozialer Phobie leidet, aber auch die warmherzige Atmosphäre würden mich stärker beeinflussen, als ich es für möglich gehalten hätte.Vor drei Wochen wurde mir über Facebook ein viertägiger Workshop angepriesen. Anscheinend erhielt man dort die Möglichkeit, unter kompetenter Aufsicht ein nachhaltiges Projekt zu starten, das die Welt ein bisschen besser machen sollte. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: Ein Personal Coach und eine Person, die unter sozialer Phobie leidet, aber auch die warmherzige Atmosphäre würden mich stärker beeinflussen, als ich es für möglich gehalten hätte.

 

Der Beginn mit essbaren Insekten

Der Zeitplan machte keinen entspannten Eindruck: Mittwoch von 18 bis 22 Uhr, Donnerstag von 9 bis 22 Uhr, Freitag von 9 bis 22 Uhr, Samstag von 9 bis 21 Uhr. Eine Menge Zeit, die ich investieren würde für einen Workshop, von dem ich nicht wusste, ob ich dafür geeignet war. Als ich am ersten Tag den Seminarraum der Jugendherberge in Zürich betrat, wurde ich zusammen mit anderen Teilnehmern herzlich begrüsst. Die ehrenamtlich arbeitenden Organisatoren, rund ein halbes Dutzend Personen, die meisten im Alter zwischen zwanzig und dreissig, wirkten motiviert und auf Anhieb sympathisch. Beim Apéro lernte ich ein paar der ungefähr fünfzehn Teilnehmer flüchtig kennen, und vor allem eine Person, die später noch einen grossen Einfluss auf mich haben sollte. Diese Person, ich ändere seinen Namen auf Julian, war mir ein paarmal auf Facebook aufgefallen, wo er Anlässe in die Richtung sozialer Experimente organisiert hatte – genau das, was mich in den letzten Wochen beschäftigt und fasziniert hatte. »Falls es dich interessiert«, sagte er dann zu mir, »ich organisiere ein Wohnzimmerkonzert. Kannst kommen, wenn du willst.«

Zwei Stunden später assen manche von uns geröstete Mehlwürmer und Heuschrecken. Diese sind das Ergebnis von einem der Projekte, die aus vergangenen Workshops hervorgegangen waren. »Einer von uns ist nur für das Lobbying zuständig«, verriet der Marketing Manager von Essento. Die Initianten warten zurzeit noch auf die gesetzlichen Grundlagen, um die Delikatessen aus essbaren Insekten an die Gastronomie vertreiben zu dürfen. Eine andere Person berichtete von dem veganen Kleiderlabel Sanikai, das sie zu zweit gegründet hatten. Wir erfuhren zudem einige Details über das nichtkommerzielle Café Mondial in Konstanz, das als Begegnungsraum für jedermann dienen soll. Anschliessend lernten wir einander besser kennen, indem wir uns jeweils zu viert an einen Tisch setzten, und bei Kerzenlicht einen Teil unserer Lebenserfahrungen teilten. Für mich machte es immer mehr den Anschein, dass wir den gemeinsamen Wunsch verspürten, innerhalb dieser vier Tage etwas Positives zu bewirken.

 

Die theatralische Ideenpräsentation

Bei der Vorstellungsrunde am folgenden Tag erläuterte jeder seine Motivation für die Teilnahme. Der Letzte in der Runde, ein junger, zurückhaltender Mann namens Daniel (Name geändert), offenbarte uns, dass er mit sozialer Phobie zu kämpfen habe, und dass er an diesen Workshop käme, um sich im Umgang mit Menschen zu üben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich weder jemanden mit diesem Hintergrund kennengelernt, noch besass ich eine konkrete Vorstellung von dieser Angsterkrankung. In der Pause sprach ich ihn darauf an. »Ich habe auch Mühe, mich in die Diskussion innerhalb einer Gruppe einzubringen«, sagte ich. Daraufhin wechselten wir ein paar nette Worte.
Durch spielerische Aktivitäten konnte ich zu vielen Personen eine engere Bindung aufbauen. Grosse Wirkung erzeugte beispielsweise ein Kartenspiel, wo wir zuerst die Regeln verteilt bekamen, beim Spielen allerdings keinen Zugriff auf diese hatten, und wo das Sprechen zusätzlich verboten war. Zahlreiche Missverständnisse mit hektischen Gesten und Fingerzeigen waren die Folge. Obwohl damit nicht alle Unklarheiten beseitigt werden konnten, hatte ich dermassen Spass, dass die letzten Kontakthemmungen sich langsam in Luft auflösten.

Am späten Nachmittag fand ich mich im Mittelpunkt eines Halbkreises von Personen wieder, die eine zweiminütige theatralische Vorstellung von mir sehen wollten. Vorher hatte ein Teilnehmer sogar seinen Bauch entblösst. So war es dazu gekommen: Wir Teilnehmer und die Organisatoren verstanden uns nach einem Tag mittlerweile so gut, dass es zumindest für mich so anfühlte, als kennten wir uns seit Ewigkeiten. Als wären wir eine grosse Familie. An einem Abend wartete ich mit einer Teilnehmerin auf den Zug, und sie meinte: »Dieser Workshop ist wie ein Mikrokosmos.« Wenn man abends die Herberge verliess, schien es so, als würde man in die reale Welt zurückgeworfen. Durch die zwischenmenschliche Vertrautheit waren wir in Lage, in Gruppen über Themen wie Politik oder Gesellschaft offen zu diskutieren, und Inspiration für mögliche Projekte zu bekommen. Plötzlich hiess es dann: »Ihr habt nun eine halbe Stunde Zeit, um eure eigene Idee zu pitchen, sprich, sie den anderen vorzustellen. Führt ein kleines Theater auf oder lasst euch sonst etwas einfallen.« Die Teilnehmer sollten ein Bild bekommen, wer welche Interessen und Visionen besitzt, um entscheiden zu können, mit wem sie ein Team bilden wollten.

Schliesslich sassen wir im Halbkreis, liessen die kraftvolle Musik auf uns wirken, schauten erwartungsvoll in die Runde, wer denn als Erster seine Idee pitchen würde. Etwa eine Minute verging, als eine Person aufsprang, alle Hände einmal abklatschte und einen kurzen szenischen Dialog aufführte. Der nachfolgende Bauchentblösser wollte seine Idee als »sexy« verkaufen, und ich beispielsweise inszenierte eine imaginäre Talkrunde mit vorangehendem Telefongespräch. Immer mehr überwanden sich, sich für zwei Minuten in den Mittelpunkt zu stellen, bis schlussendlich alle ausser Daniel gepitcht hatten. Die Musik spielte, und man sah ihm an, dass er innerlich mit sich kämpfte. Plötzlich schoss er hoch, rannte an allen vorbei, um deren Hände abzuklatschen, steuerte auf einen Stuhl zu, und sprang hoch, um beinahe auszurutschen. Noch während mein Puls sich wieder verlangsamte, redete Daniel ruhig und sachlich über seine Idee. Am letzten Tag verriet er uns, dass es sein prägendstes Erlebnis des Workshops gewesen sei, eines Workshops, der sich für mich länger je weniger als ein solcher anfühlte.

 

Mein Highlight

Der folgende dritte Tag sollte mein prägendster werden. Dabei startete er wenig motivierend. Zu viert hatten wir uns zu einem Team zusammengeschlossen: Julian (er befasst sich beruflich unter anderem mit Personal Coaching), Daniel, und Andrea, gebürtige Russin, die in Ägypten lebt und in der Schweiz Ferien machte. Wir wollten ein Projekt in Angriff nehmen mit dem Ziel, mehr Interaktion zwischen fremden Personen in der Öffentlichkeit zu erreichen. Allerdings besassen wir bezüglich der Umsetzung verschiedene Vorstellungen, und ich erkannte, dass es von der Vision bis zur tatsächlichen Realisierung noch einige Hürden zu meistern gab. Jedenfalls sollten die vier Teams, die sich gefunden hatten, am Nachmittag ihre Ideen in der Öffentlichkeit auf die Probe stellen: Umfragen durchführen, konkrete Aktionen starten, Videos drehen, etc. Unser Team beschloss, dass an einem öffentlichen Platz drei von uns sich je an einen Tisch setzen sollten, wo Fremde zur Diskussion einer bestimmten Frage eingeladen werden konnten. Mit skeptischen Gedanken verliess ich mit den anderen die Herberge.

Ich weiss nicht genau, was der Auslöser war, aber als wir im Tram sassen, meinte ich plötzlich zu Julian: »Ich könnte doch jetzt einfach zu dem Mann gehen, der da vorne sitzt, und ihm sagen, ich habe eine Wette verloren und müsste darum ein Selfie mit einem Fremden machen, und gerade mit ihm, weil er so sympathisch aussieht.« Julian antwortete nur: »Gute Idee, mach es.« Mit leicht erhöhtem Puls und einem Foto kehrte ich zurück und realisierte: Eigentlich ist es ganz einfach, mit Fremden in Kontakt zu kommen, wenn man ein bisschen kreativ ist. Von diesem Zeitpunkt an stand ich unter erhöhtem Adrenalinlevel und wollte mehr dieser ungewöhnlichen Szenarien erleben, und dafür war Julian genau der Richtige. In der Bahnhofsstrasse ging er auf eine Frau zu, die Passanten zu Spenden animieren wollte. Er lief mit offenen Armen auf sie zu: »Free Hug?«, und er umarmte sie einfach so, und schliesslich waren wir zu fünft verknäuelt. Auf der Rolltreppe in einem Shoppingcenter sprach ich einen Touristen aus China an und es war so eine Freude, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Im Restaurant des Centers ging es weiter. Ich lief an einem Tisch vorbei und wünschte den zwei Personen einen guten Appetit. Etwas später setzte ich mich kurz zu einer Frau, die alleine sass; aber natürlich nicht ohne vorher zu fragen, ob ich denn störte. Vom Workshop trug ich noch immer das Namensschildchen auf dem Hemd. »Ich habe eine Wette verloren«, begann ich. »Ich muss nun zu einem Fremden gehen, der versuchen muss, meinen Namen zu erraten. Können Sie erraten wie ich heisse?« Natürlich war es kein Problem für sie.
Wir sassen noch immer am Tisch im Restaurant und Andrea zögerte, ob sie sich auch in eine derartige Situation wagen sollte. Julian stellte ihr die Aufgabe, zu einem Mann zu gehen, den sie hübsch fand, und ihm das auch wirklich zu sagen. Er motivierte und bestärkte sie solange, bis sie aufstand, zu ihm hinüberging, und mit einem Lächeln wieder an unseren Tisch zurückkehrte. »Was hast du gesagt?«, wollten wir wissen. »I said to him: Do not get me wrong but you look handsome.« Wir konnten uns ein Lachen nicht verkneifen und für etwa drei Minuten brachte der Mann das Strahlen nicht mehr aus seinem Gesicht, schaute ständig zu unserem Tisch hinüber. Euphorisch und wie elektrisiert verliessen wir das Center, um uns unserer eigentlichen Aufgabe zu widmen, aber für mich stand bereits fest, dass dieser Nachmittag ein voller Erfolg war.

Zurück in der Herberge musste ich die Geschehnisse erstmal verarbeiten. Was war eigentlich mit unserer geplanten Aktion passiert, wo Fremde zur Diskussion eingeladen werden sollten? Nun, wir hatten einen Versuch im Lichthof der Universität gewagt. Am Rande der zahlreichen Rundtischen stellten wir drei Stehtische auf, worauf wir ein paar Personen dazu bewegen wollten, dort eine kurze »Pause« einzulegen. »Wir diskutieren bereits dieses Skript hier«, antwortete eine Gruppe Studenten, und die Lage war schnell klar: Unser Vorhaben würde schwierig werden. Daniel hatte unterdessen eine Person entdeckt, die er zu kennen glaubte. Aber er zögerte, sie anzusprechen, bis Julian ihn schliesslich doch dazu überreden konnte. Anstatt aufzugeben, versuchten wir, direkt mit einer der Fragen auf die Personen zuzugehen. Daraus ergaben sich ein paar wenige Gespräche. Kurz bevor wir aufbrachen, wollte ich noch einen Versuch wagen, und steuerte auf eine Studentin zu, die alleine sass und in ihr Handy vertieft war. Fünf Minuten lang diskutierten wir die Frage, aber das Gespräch dehnte sich schliesslich auf zwanzig Minuten aus. Auf dem Rückweg realisierte ich langsam, was dieser Nachmittag für mich überhaupt bedeutete. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich stets Mühe gehabt, fremde Menschen anzusprechen. Aber innerhalb von drei Stunden hatten sich die Hemmungen beinahe verflüchtigt. Und das vor allem deshalb, weil ich mich in einem motivierenden Umfeld befunden hatte. Weil mich Julian in meinen verrückten Ideen bestärkt hatte.

Am Abend gestalteten wir die Projektidee konkreter und wieder wurde ich frustriert, da unsere Vorstellungen sich deutlich unterschieden. Schliesslich wurden wir uns doch einig, glücklicherweise, denn am folgenden Tage kamen die Experten: Fünf Personen, deren Wissen und Erfahrungen uns weiterhelfen sollten. Einer davon war beispielsweise Franklin Frederick, ein brasilianischer Umweltschützer, der unter anderem gegen die Wassergeschäfte von Nestlé kämpft. In der Pause fragte ich ihn, was aus seiner Sicht das grösste Problem in der Schweiz in Bezug auf unsere Gesellschaft sei. Was er mir antwortete, werde ich so schnell nicht wieder vergessen. Ähnlich beim Gespräch mit Bah Sadou, Co-Gründer der Autonomen Schule in Zürich. Er erzählte vom Schock, als er von Guinea in die Schweiz gekommen war und sagte: »Das Schlimme ist, dass man sich an diesen Zustand gewöhnt.« Wie denn der Zustand in Guinea sei, wollte ich wissen. Er lachte laut auf: »Schon nur wenn du in den Bus steigst, grüssen dich alle!«

 

Das Fazit

Ehrlich gesagt, weiss ich nicht, wie ich diesen Artikel würdig abschliessen soll. Ich merke gerade, dass ich deutlich mehr Zeilen bräuchte, um die Atmosphäre befriedigend widerzugeben. Wer seinen Horizont erweitern will, ungewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Visionen treffen will, ist bei imp!act bestens aufgehoben. Auch wenn die Arbeit an den Projekten den Hauptbestandteil ausmacht, stand zumindest für mich die Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund. Wie einen diese vier Tage beeinflussen und verändern werden, kann man nicht abschätzen. Für mich steht aber fest, dass sich jeder zumindest ein Stück weit verändert hat. Die Zwischenmenschlichkeit an diesem Event war etwas ganz Besonderes. Manche umarmten sich plötzlich ohne erkennbaren Grund, einfach, weil man sich zusammengehörig fühlte, und auch ich liess mich manchmal von der Stimmung mitreissen. Am vorletzten Abend kam eine der Organisatoren auf mich zu und wirkte niedergeschlagen. »Geht es dir nicht gut?«, fragte ich sie und es stellte sich heraus, dass sie unglücklich darüber war, sich nicht mit allen Teilnehmern ausführlich ausgetauscht zu haben. Wir führten danach ein kurzes aber tiefgründiges Gespräch.
Daniel, der sich sichtlich Mühe gab, sich zu überwinden, wollte am letzten Tag einer Teilnehmerin ein Kompliment machen. »Geh schon, jetzt ist sie alleine«, versuchte ich ihn zu motivieren. Es dauerte eine Weile, bis er es tatsächlich wagte, und er kam aufgewühlt zurück: »Verdammt, ich glaube, sie hat es richtig schlecht aufgenommen.« Glücklicherweise beruhigte er sich und beim Verabschieden sagte er zu mir: »Wenn es um Frauen ansprechen geht, bist du mein Vorbild.« Ich lachte nur, und meinte, dass ich diese Ehre ganz sicher nicht verdient hatte. Die Art wie Daniel versuchte gegen seine Phobie anzukämpfen, beeindruckte mich. Man kann viel von ihm lernen. Ich hoffe sehr, er macht so weiter.

Vielen Dank an alle, die diesen Event möglich gemacht haben. Die Leidenschaft für eure Arbeit ist unübersehbar. Nicht zuletzt bedanke ich mich bei den Teilnehmern, die zu einer unvergesslichen Atmosphäre beigetragen haben. Ihr habt mir aufgezeigt, wie wichtig die Wahl des Umfeldes ist, und dass Erfolg oder Misserfolg davon abhängen können.

Das von den Organisatoren gefertigte Armbändchen gefällt mir übrigens sehr. Ich trage es jeden Tag, und es soll mich nicht nur an die prägende Zeit erinnern, sondern auch an die Antwort, die mir Franklin Frederick gegeben hatte: »Viele Menschen stehen in keiner Beziehung zueinander. Sie sorgen sich um ihre Frisuren, und wenn ein Zug sich verspätet, weil sich jemand auf die Geleise geworfen hat, beschweren sie sich über die Verspätung. Die Selbstmordrate ist hoch, und wir sind soweit, dass wir an den Brücken Schilder mit Telefonnummern anbringen müssen. Realisiert euer Projekt, bleibt am Ball, aber denkt immer daran, dass 99% der Bevölkerung eine Änderung der Gesellschaft für unnötig erachten wird.«

Und das will ich jedem ans Herz legen: Finde deine persönliche Aufgabe, steh dafür ein und kämpfe hartnäckig. And play and dance the Lonely Boy!

 

Wer oder was ist imp!act?

Am imp!act-Event treffen sich junge Menschen, um gemeinsam an sozialen oder ökologischen Projekten zu arbeiten. Für mehr Informationen: www.euforia.org

Alexander Rodshtein